
Sderot nimmt als Grenzstadt nach wie vor eine Sonderstellung ein:
Auswirkung der Anschläge mit Qassam-Raketen -
Hunderte Eltern und Kinder benötigen psychologische therapeutische
Betreuung
Die Hälfte der Familien mit kleinen Kindern
leiden unter posttraumatischen Syndromen
Von Ruti Sinai - Haaretz - 19.01.06
Sderot – Wen die vierjährige Tahal Maman vom
Kindergarten nachhause kommt, dann kriecht sie unter den Küchentisch und
bleibt dort. Als sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal dieses Verhalten
erkennen ließ, dachte ihre Mutter Ofra zuerst, dass es sich um ein Spiel
handelte. Doch nachdem sie dazu ermutigt wurde, darüber zu sprechen,
stellte Ofra fest, dass ihre Tochter auf diese Weise mit der
stresshaften Sicherheitssituation fertig wurde, in deren Schatten den
größten Teil ihres so jungen Lebens bisher verbracht hatte. Diese
Situation besteht darin, dass Qassam-Raketen in Sderot einschlagen, sie
besteht aus dem Lärm der israelischen Artillerie, die nach Gaza hinüber
feuert und aus dem Überschallknall, wenn israelische Luftwaffenmaschinen
die Überschallmauer durchbrechen.
Die Lage der Maman-Familie ist kein Einzelfall. In einer
kürzlich durchgeführten Umfrage in Sderot unter etwa 120 Familien mit
kleinen Kindern, stellte sich heraus, dass etwa 50% der Eltern sowie
ihre Kinder unter PST (Post-Traumatisches Syndrom) leiden. Viele von
ihnen werden bald psychologische Hilfe erhalten im Rahmen eines
Projektes, das Therapiemethoden anwendet, die in New York zur Behandlung
von überlebenden 9-11-Traumaopfern entwickelt wurden.
Tahal Mamam springt bei jedem Geräusch auf, wie auch ihr
siebenjähriger Bruder – egal ob dieses von einem Bohrer kommt oder von
einer zuschlagenden Türe. Wenn der "Red Dawn"- Alarm ertönt, der vor
einer anfliegenden Qassam-Rakete warnt, erstarren die Kinder förmlich.
Wenn der Alarm in der Nacht ertönt, kriechen sie in Mutters Bett. Sie
selbst hat in den vergangenen vier Jahren nicht gut geschlafen, in Angst
vor dem nächsten Angriff und immer in Alarmbereitschaft.
Wenn sie in der Arbeit ist – sie unterrichtet
Wirtschaftslehre und Erdkunde an der örtlichen Hochschule – sorgt sie
sich ebenso um ihre Schulkinder wie um ihre eigenen Kinder. Wenn Raketen
einschlagen, fallen einige ihrer Kinder in Ohnmacht. "Es ist schwierig,
einen geregelten Unterricht abzuhalten", sagt sie. Die Spannung steigt
jedes Mal, wenn die israelische Armee auf den Angriff antwortet. Die
Schulkinder sind jederzeit darauf vorbereitet, von ihren Stühlen
aufzuspringen und sich in einer Reihe an den Klassenzimmerwänden
aufzustellen, so wie man es ihnen beigebracht hat.
Die Maman-Familie wohnt in einem Garten-Apartment in
einem fünfstöckigen Gebäude, auf dessen Dach sich eine Empfänger-Anlage
befindet, die den Start von Quassam-Raketen entdecken kann und das
Alarm-System aktiviert. Im Garten befindet sich eine Hütte, in der die
Armee ihre Alarmausrüstung untergebracht hat.
Der IDF-Posten, von dem die Armee Granaten in die Stadt
Beit Hanun in Gaza abfeuert, ist von ihrem Fenster aus zu sehen. In den
letzten Monaten haben sich die Angstzustände der Familie noch verstärkt.
Ofras zwei Schwestern und ihre Familien sind aus Gush Katif und Tahal
Maman evakuiert worden und sie hat auch Angst, dass ihr die Wohnung
weggenommen wird. Nach den Worten von Ofra ist ihr Mann relativ
gleichgültig geblieben – er ist in Kiryat Shmona an der Grenze zum
Libanon aufgewachsen und behauptet, dass er vor den Quassam-Raketen
keine Angst hat, aber er sorgt sich um seine Kinder. Was den
Stress-Zustand der Familie noch vergrößerte ist er Umstand, dass ihr
einjähriges Baby krank geworden ist, und in den vergangenen Monaten
zweimal operiert werden musste.
Dennoch ist Maman nicht dazu bereit, Sderot zu verlassen.
Sie ist hier geboren worden und liebt die Stadt. Aber sie will mit
weniger Stress leben, mit weniger ständiger Anspannung und mit weniger
Angst, die sie permanent spürt und auf ihre Kinder überträgt. "Ich
möchte zu einem normaleren Leben zurückkehren, zu dem, wie es früher
einmal war, aufhören, immer die ganze Zeit Angst zu haben, den ganzen
Tag und die ganze Nacht über", sagt sie.
Das Therapie-Programm, an dem die Maman-Familie
teilnimmt, ist dafür gedacht, innerhalb der nächsten zwei Jahre weitere
dreihundert Familien zu erreichen, die Kinder im Alter zwischen zwei und
vier Jahren haben. Von den 120 Familien, die bisher interviewt wurden,
haben 35% betont, dass ihre Kinder nicht dazu bereit sind, alleine zu
schlafen.
Die Therapie wird vom örtlichen psychologischen
Beratungsdienst des Stadtrats von Shaar Hanegev angeboten. Das Programm
besteht aus mehreren verschiedenen Komponenten – Eltern und
Kinder-Stunden mit einem Psychologen, Gruppentherapie für Eltern und
Arbeitskreise für Eltern und für Kindergärten und Mitarbeiter der
Tagesstätten. Damit die Gemeinde gestärkt wird, kommt eine Methode zur
Anwendung, die sich "Taf Teken" nennt ("Infant Standard" – "Tav Teken"
auf Hebräisch bezeichnet eine gewöhnliche Briefmarke).
Das Projekt, das sich in der finanziellen Größenordnung
von einer halben Million Dollar innerhalb der nächsten beiden Jahre
bewegt, wird von der Picower Stiftung in New York gesponsert, die auch
ein Projekt für 9/11 Kinder-Trauma-Opfer sponsert. Die Therapie, die in
Sderot zur Anwendung kommt und die auch die gemeinsame Behandlung von
Müttern und Kindern zum Inhalt hat, wurde in New York von Dr. Claude
Shem Tov am Mount Sinai Hospital nach der Twin Towers-Katastrophe
entwickelt. Das Programm in Sderot, das vom "Mashabim" Center aus Kiryat
Shmona und dem "Israel Center zur Behandlung von psychotraumatischen
Zuständen" aus Jerusalem geleitet wird, ist Teil eines umfassenderen
Projektes, das von der Vereinigung Jüdischer Organisation in New York
finanziell gefördert wird.
Einer der einzigartigen Aspekte der Forschung, die das
Sderot-Projekt begleitend unterstützt, liegt in der Entwicklung von
Methoden, um psychotraumatische Zustände bei jungen Kindern
diagnostizieren und behandeln zu können, ein Aufgabengebiet, das noch
kaum erforscht ist. "Die Diagnose von PST unter zweijährigen Kindern ist
eine ernste Herausforderung", sagt Dr. Ruth Patt-Hornchik vom
Psychotrauma-Zentrum und Leiterin der Forschungsgruppe, die betont, dass
diese Behandlung Grundlage für eine gesicherte und gesunde Entwicklung
der Kinder darstellt.
Dr. Hornchik erklärte weiter, dass die Behandlung der
Eltern nicht weniger wichtig sei. Studien deuten darauf hin, dass der
Stress der Eltern die Kinder sogar noch mehr beeinflusst als die
traumatischen Vorfälle an sich. Sie fügt hinzu, dass es im allgemeinen
wichtig ist, jene zu identifizieren, die unter traumatischen
Stresszuständen leiden, weil viele dieser Menschen sich nicht einmal
bewusst sind, dass sie unter etwas leiden, das behandelt werden kann.
"Für ein Kind ist das Zusammenleben mit einem
posttraumitsch kranken Elternteil sehr schwierig", sagt Osnat Duplette,
Dr. Hornchiks Forschungsassistentin. "Diese Eltern werden hilflos, sind
nicht aufmerksam und vergessen ganz einfach, wie sie ihre Zeit mit den
Kindern genießen können."
"Für viele dieser Familien ist es das erste Mal, dass
jemand dasitzt und ihnen zuhört", sagt Dalia Yosef, Leiterin des
Frageteams. "Es gibt einen enormen Bedarf dafür in Sderot und die
örtlichen Dienststellen sind ganz einfach nicht dafür ausgestattet, um
diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Bis jetzt mussten die Menschen
für alle Kleinigkeiten Termine in Tel Aviv vereinbaren und dann sechs
Monate darauf warten."
Nach den Worten von Dr. Patt-Hornchik ist es so, dass
wenn sich das Sderot-Modell als erfolgreich erweisen sollte, dann könnte
dieses Programm auch bei der Behandlung von früheren Einwohnern von Gush
Katif wie auch für Gruppen von palästinensischen Eltern und Kindern zur
Anwendung kommen. Die Forschungsergebnisse werden bei einer
internationalen Konferenz veröffentlicht, die unter dem Thema "Stärkung
von Gemeinden angesichts traumatischer Verhältnisse", im kommenden Monat
im "Mashabim Center" in Herzlia stattfinden wird.
Keren Hayesod 17-05-2006
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